Oliver Wälde: Das Versprechen

Walter Vogt war ein notorischer Lügner und Betrüger. Aus diesem Grund verlor er immer wieder seinen Job, geriet mit den Behörden, Restaurantbesitzern und anderen in Schwierigkeiten. Auch seine geliebte Frau Sarah belog er ständig, ebenso wie seine anbetungswürdige Tochter Miranda, ohne dass er es eigentlich wollte. Nach einem sehr heftigen Streit mit seiner Gattin – wobei er aus der gemeinsamen Wohnung verbannt wurde – versuchte er zwei Wochen später, den Geburtstag seiner Tochter dafür zu nutzen, seine Gemahlin zurückzugewinnen. Er würde sich ändern, ja, das würde er … ganz bestimmt! Dachte er von sich selbst so sehr überzogen, dass für ihn nicht der geringste Zweifel bestand. Zuerst musste er jedoch noch ein Geschenk für Miranda besorgen, und so begab er sich in das beste Kaufhaus der Stadt, um ein würdiges Präsent für sie zu finden. Als er eine passende Aufmerksamkeit entdeckte, steckte er sie mangels Geldscheinen und Münzen unter seinen braunen Pullover. Schließlich wurde hier jeden Tag gestohlen. Und wenn er den örtlichen Nachrichten glauben schenken konnte, geschah dies zurzeit im großen Stil – die Rede war gar von einer Serie! Walter schmunzelte und sah sich danach noch ein bisschen um, als auch schon zwei Sicherheitsleute um die Ecke auf ihn zueilten.
   “Kaufhausdetektiv Meiler, ich muss Sie bitten, mitzukommen!”
   Walter Vogt zuckte zusammen und drehte sich ruckartig um. “Wie … äh was meinen Sie?”, stammelte er ertappt, als ihn auch schon der etwas kurz geratene Kollege von Meiler am Arm ergriff.
   “Wir möchten nur einige Blicke in Ihre Taschen werfen! Sie haben durchaus das Recht, dies zu verweigern, doch dann sind wir gezwungen, umgehend die Polizei zu rufen”, brummte Meilers Kollege monoton.
   Da schon einige Leute neugierig stehen blieben, gab Walter nach und ließ sich von den beiden Detektiven in ihr Büro über dem Einkaufszentrum bringen.
   Dort leerten sie seine Taschen, was nicht den gewünschten Erfolg für die Detektive brachte. Hernach forderten sie ihn auf, seinen Pullover hochzuziehen, worauf eine edle Barbiepuppe auf den Boden fiel. Die beiden Detektive schauten sich an und meinten synchron grinsend zum ertappten Dieb: “Mmmhh …, nun müssen wir doch noch Harry und Hans von der Kripo rufen, Volltreffer! Die werden sich bestimmt freuen”, lachten sie den unglücklichen Langfinger aus.
   Nach kurzer Zeit trafen zwei Beamte der Kripo ein und nahmen Walter Vogt fest. Auf dem Präsidium vernahmen sie ihn und setzten ein Protokoll auf. Während des Verhörs tauchten weitere Gegenstände auf – hauptsächlich elektronische, die er auch noch gestohlen haben sollte. “Wo haben Sie das Geld, das aus dem Verkauf der DVD-Player herausgesprungen ist? Haben Sie es bereits ausgegeben?”, fragte Meiler in ernstem Tonfall. Dabei grinste er seinen Kollegen an, und ein subtiles Lachen umspielte ihrer beider Lippen.
   Walter Vogt ließ es einfach über sich ergehen – nickte nur, und dachte dabei an seine Tochter und seine Frau, die er so sehr liebte und wahrscheinlich verlieren würde. Am Ende des mehrstündigen Verhörs unterschrieb er gedankenlos das Protokoll, und sie entließen ihn schon fast höflich aus der U-Haft.
   Erst wusste er nicht, was er tun sollte, und so entschied er sich, seinen ursprünglichen Plan weiterzuverfolgen. Er trat niedergeschlagen den Heimweg an. Seine Gedanken fuhren Karussell. Schließlich musste er die Puppe zurückgeben und hatte nun kein Geschenk. Er wollte seine Ehe retten und richtete sie stattdessen zugrunde. Immer mehr in seiner Welt gefangen, bemerkte er nur am Rande, dass ihn die Leute, an denen er vorbeikam, mitfühlend grüßten und tuschelnd weitergingen.

Als er etwas später die Wohnungstür öffnete, trat ihm der örtlich ansässige Pfarrer entgegen. Walter blieb verdutzt im Türrahmen stehen und glotzte den Kirchenmann mit großen Augen an, dachte erst gar, sich in der Wohnungstür geirrt zu haben. Sein Magen zog sich gewaltsam zusammen und löste einen heftigen Schmerz, wie selten in seinem Leben, aus.
   “Ihre Frau”, stockte der Geistliche, “sie bat mich, mit Ihnen zu reden, falls Sie kommen würden”, er deutete mit einer raschelnden Bewegung an, dass er jedoch erst einmal eintreten sollte, dabei entblößte er unsicher seine weißen Zähne.
   Walter trat zögerlich ein und schloss die Tür hinter sich.
   Nachdem sie sich im Wohnzimmer auf die cremefarbene Couch gesetzt hatten, begann der Pfarrer nach den richtigen Worten zu suchen: “Ihre Frau ist sterbenskrank, Herr Vogt!”, dabei schaffte er es nicht, ihn anzusehen. “Sie hoffte inständig, die Krankheit im Geheimen überwinden zu können, ohne Sie oder Ihre Tochter damit zu quälen!” Der Diener Gottes blickte unsicher hoch, direkt in die Augen des sichtlich verwirrten Ehemannes.
   “Wo ist Miranda? Und wo ist meine Frau …? Was ist hier verdammt noch mal los?”, brach es aus ihm hervor.
   Gerade als ihm der Priester antworten wollte, trat der Hausarzt von Frau Vogt, Doktor Kündig, aus dem Schlafzimmer und nickte dem Ehemann schweigend zu, der sich sofort erhob und Richtung Zimmer bewegte.
   Der Kirchenmann blieb sitzen und starrte dem Mann nach. Auf seinem Gesicht war deutliches Mitleid zu erkennen, während sich seine Lippen zu einem nicht laut gesprochenen Gebet bewegten.
   Walter betrat eilends sein Schlafgemach, das er wegen des Streites schon länger nicht mehr gesehen hatte. Er schloss leise die Tür hinter sich und trat rasch ans Bett. Die Luft des Zimmers roch abgestanden, doch er getraute sich nicht, das Fenster zu öffnen. Seine Frau schlief ruhig und scheinbar zufrieden. Vor dem Bett ging er auf die Knie und starrte in ihr eingefallenes Gesicht – da wusste er aus unerfindlichem Grund, dass sie bald sterben würde! In diesem Augenblick zerbarst sein zugemauertes Herz, seine Traumwelt, und er wurde in die brutale Wirklichkeit geschleudert. Lange versiegte Tränen rannen ihm von der Wange und tropften in einem raschen Rhythmus leise auf das weiße Laken. “Bitte”, schluchzte er plötzlich in die Stille hinein, “bitte, du darfst nicht sterben …! Du darfst Miranda und mich nicht alleine in dieser Welt zurücklassen!”, er schloss müde von den vergangenen Strapazen die Lider und wisperte kaum verständlich: “Ich … ich komme so schon nicht mit dem Leben zurecht – ohne dich, ohne dich … Ich werde alles tun, alles, was du willst, mein Engel! … Engelchen …!”, weinte er und legte seinen Kopf auf das von seinen Tränen feuchte Laken. “Vergib mir! Vergib mir meine Schuld, denn ich wusste nicht, was ich tat …!”
Nach einer Weile hob er seinen Kopf vom Laken, schluckte mehrmals schwer und blickte seine geliebte Frau an.
   Plötzlich schlugen ihre Lider auf, und sie starrte ihn mit glasklaren Augen an. Das helle Blau stach in seine verheulten kastanienbraunen Augen, und er wandte sich unter ihrem reinen Blick verlegen ab. “Lüge und betrüge nicht mehr!”, hauchte sie beinahe zärtlich. “Sei Miranda ein ehrlicher … vorbildlicher Vater, Walter!”, ihre rechte Hand suchte die seine und ergriff sie. “Sprich ab nun die Wahrheit, sei es noch so schwer!”, ein kleiner Hustenreiz unterbrach sie, und er raffte sich auf und blickte sie jetzt geradewegs an. “Tu es für deine Tochter!”, lächelte sie schwach. “Es würde mich so wahnsinnig glücklich machen!”, sie nickte leicht und ließ seine Hand los. “Ja, das würde es, mein Liebster!” Sie schloss ihre schwer werdenden Lider, während er sich über ihre knochige Gestalt beugte und sie sanft auf die immer noch sinnlich wirkenden Lippen küsste.
   “Ich verspreche es dir”, stammelte er kaum hörbar mit einem dicken Kloß im Hals, wie er ihn eigentlich nur aus Kindheitstagen kannte. Und als er sich einen Atemzug diesem längst vergangenen Gedanken hingab, starb seine Frau still und leise. Auf ihrem Gesicht hatte sich ein weiches Lächeln eingegraben, und er brauchte eine Weile, bis er begriff, dass nun Gott für sie sorgen würde. Seine Tränen versiegten lange nicht. Er kniete einfach da und weinte still in sich hinein – entschuldigte sich für all die Dinge, die er nicht hätte tun sollen, wie für diejenigen, die er hätte tun sollen, aber nicht machte! Als er nicht mehr wusste, was er sagen sollte, stand er mit raschelnden Geräuschen, die von seinen Kleidern herrührten, auf und stellte sich vor seiner toten Frau kerzengerade hin. “Ich”, stammelte er, “ich werde ab nun ein ehrliches Leben führen!”, Entschlossen nickte er: “So verspreche ich es dir – jetzt und hier! Der liebe Gott soll mein Zeuge sein!”, Warme Tränen begleiteten seine kehligen, teils verschluckten Worte.
Nach einer langen Weile der stillen Trauer entschied Walter, zurück ins Wohnzimmer zu gehen, um dem Arzt und dem Pfarrer mitzuteilen, dass sie in den Himmel befohlen worden war.
   Gerade als er aus dem Zimmer trat, überkam ihn ein seltsames Gefühl, und um ihn herum wurde es schwarz. In weiter Ferne hörte er noch einen dumpfen Knall und spürte einen stechenden Schmerz, ehe er ganz von der Dunkelheit verschlungen wurde.

Als er wieder erwachte, fehlten ihm zwei volle Tage seines Lebens, und er lag in einem Krankenhausbett. Die Laken waren so weiß, wie jene, in denen seine geliebte Frau verstorben war – wofür er weitere zwei Tage brauchte, um es wirklich glauben und akzeptieren zu können. In dieser Zeit dachte er oft, seine Frau würde ihn jeden Moment besuchen kommen, und alles wäre nur ein böser Traum gewesen – sein Warten war vergebens. Auch seine Tochter besuchte ihn nicht, dafür aber der Geistliche. Er kam jeden Tag um dieselbe Zeit und brachte ihm eine Tafel Milchschokolade mit, die er neuerdings so mochte. Dabei unterhielten sie sich, und Walter erfuhr vom Priester, dass sich Miranda in der Obhut der Kirche befand. Sie sprachen auch über seine Frau Sarah und sein zwanghaftes Lügen. Walter berichtete dem Diener Gottes nach einigen Tagen von dem Versprechen, welches er seiner Frau vor ihrem Tod gegeben hatte. Dieser nickte und versicherte, ihm dabei zu helfen, wo er es vermochte.
   Nach acht langen Tagen wurde Walter Vogt aus dem Krankenhaus in eine ihm neue, befremdliche Welt entlassen. Draußen im Regen wartete der Geistliche mit Miranda auf ihn, die rufend die Arme ausbreitete. “Papa, Papa!”, kreischte sie freudig. Er rannte zu ihr und nahm sie in seine Arme und drückte sie – drückte sie so fest er nur konnte. “Oh mein kleiner Schatz, wie habe ich dich vermisst!”, er vergrub seinen Kopf in ihrem Nacken und roch ihren Duft – roch den Duft seiner Frau. Anschließend begrüßte er etwas unsicher den Pfarrer und bedankte sich bei ihm für die Hilfe.
   “Ach, das tue ich gerne!”, schmunzelte dieser herzlich zu Walter herüber, der seine geliebte Tochter fest im Arm hielt. “Wissen Sie, zu sehen, was ich gerade sehe – zu spüren, was ich gerade spüre – das ist meine Hilfe mehr als nur wert!”, er trat zu Walter hin und lud ihn zu einer Tasse Tee im Gasthaus gegenüber ein. “Der Tee dort ist wirklich vorzüglich!”
   So betraten sie einige Minuten später die Gaststätte.
   Im rustikalen Lokal saßen die beiden Detektive des Einkaufhauses mit den beiden Polizisten der Kripo am Stammtisch und grunzten laut kalauernd wie Schweine, ohne dass sie die neuen Gäste bemerkten.
   Walter blieb erstarrt stehen, während sich vor seinem inneren Auge abspielte, wie er die Puppe klauen wollte, sie ihn hernach aufforderten, mit ihnen zu gehen. Darauf die Polizisten kamen und ihn festnahmen. Er erinnerte sich nun daran, wie sie auch von elektronischer Ware sprachen, die er gestohlen habe sollte!
   “Was haben Sie?”, fragte der Priester leise und stupste Walter in die Seite, doch er spürte es nicht.
   Er stand einfach da und glotzte zum Stammtisch herüber. Seine Erinnerung zeigte ihm noch einmal die letzte Begegnung mit seiner Frau, erinnerte ihn an sein Versprechen. “Lüge und betrüge nicht mehr! Sprich ab nun die Wahrheit, sei es noch so schwer!”, hörte er ihre beinahe flüsternde Stimme in seinem Herzen mahnen.
   Walter zuckte ohne erkennbaren Grund zusammen, holte tief Luft und setzte sich in Bewegung. Den Geistlichen und Miranda ließ er einfach stehen. Er trat aufrecht an den Stammtisch heran und räusperte sich laut, dass die Männer am Tisch verstummten. Seine Hände waren feucht, und sein Herz dröhnte ihm in den Ohren. “An dem Tag, als ich die Puppe bei Ihnen im Kaufhaus stahl”, er nickte Meiler kaum merklich zu, “wurde meine Frau zu Gott befohlen.” Walter blickte auch die anderen kurz eindringlich an.
   Die Männer schwiegen allesamt und stierten ihn nur mit gerunzelter Stirn an.
   “Deswegen begriff ich wohl nicht, dass Sie auf meine Kosten ihren Lebens-Standard aufbesserten!”, seine Augen schweiften in die Runde.
   “Was wollen Sie eigentlich, verschwinden Sie, oder hat Ihnen die U-Haft so gut gefallen?”, fuhr ihn Harry, der Dickere der beiden Polizisten an.
   Walter ließ sich davon nicht beeindrucken und erwiderte ihm ruhig, während der Priester und seine Tochter hinter ihn traten: “Ich will die Wahrheit, und sei es noch so schwer!”

(Shortstory  von Oliver Wälde, Bülach – Schweiz)

 


 

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