Regina Maier: Der Tod des Einsiedlers

Pagliaccio zog Roberto gleich beiseite. “Sie richten ihn also hin”, sagte er, “und sie haben um ein kleines Gastspiel gebeten. Das wollen wir ihnen gewiss nicht vorenthalten.”
“Meister, diese Narren ermorden einen weisen Mann.”
“Halt den Mund! Mach auf der Stelle die Bühne fertig!”
“Wir müssen ihm helfen … Nein …, oh nein, die Bühne mach’ ich nicht fertig.”
“Diese Dörfler sind jetzt im Blutrausch, schau in ihre irren Gesichter! Stell dich nur dagegen, dann schmeißen sie dich auch ins Feuer.”
“Und du würdest immer noch für sie spielen?”
“Widerlicher, kleiner Querkopf! Willst du dich als Fremder ins Recht dieses Dorfes einmischen?”
“Willst du als Fremder ihr Gold begehren?”
“Vielleicht möchtest du in den nächsten Tagen Baumrinde fressen, wir haben nämlich überhaupt kein Geld mehr.”
Das Gesicht des Jungen war inzwischen aschfahl. “Ich ertrage es nicht, Rodrigo. Ich kann mir diese Hinrichtung nicht ansehen …, nur um des verfluchten Geldes wegen.”
“Ach, dir steht der Heiligenschein schon ausgesprochen gut. Renn zum Jammern in den Wald und kehre wieder, wenn alles vorüber ist! Ich werde spielen, und du wirst zuvor die Bühne errichten.” Es bereitete ihm eine düstere Freude.

Zu gern wollte der Junge seiner Rolle des Dieners und Lehrlings entkommen. Wie sehr sträubte er sich dagegen, wie kämpften jetzt in ihm die Abscheu gegen das Tun des Meisters, der eigene Stolz und die Notwendigkeit des Gehorsams.
“Wenn du es nicht machst, bist du ein Abtrünniger”, versetzte Pagliaccio, “dann kannst du im Wald bleiben und dich vom Teufel holen lassen.”
Er warf einen Blick hinter sich, sah den Einsiedler, die schwarzgewandeten Gestalten mit ihrem Gold und Robertos Gesicht, der gerade in seiner eigenen Hölle schmorte. Ja, Roberto, eines weiß ich, es ist schwer nachzugeben, ohne umzufallen.

Plötzlich griff der Junge nach dem Halfter des Maultiers und führte es wortlos zu einem abgelegeneren Fleck auf dem Platze. Er begann, die Bühne zu errichten.

Inzwischen waren die Dörfler in lauernde Stille verfallen. Wieder stimmte der Einsiedler seine leise Melodie an, so rein und klar wie ein Gebet, das um ihn lag wie ein Schimmer. Ein Henker kam, dessen Gesicht von dieser gespenstischen Haube verdeckt war und beschmierte die Kleidung des Einsiedlers mit Pech.

Pagliaccio spürte einen Schauer den Rücken hinabrieseln. Diese Augen! Sie sahen dem Tod geradewegs ins Gesicht. Ja, sie waren abgründiger als der Tod, wohingegen sie den Henker gar nicht wahr zu nehmen schienen. Der Henker ist auch nicht der Tod, dachte Pagliaccio. Der Tod ist eine unsichtbare Kraft, er wirkt durch ein Lebewesen oder ein Element, und er kennt keinen Zufall. Irgendwann gibt jedes Wesen dem Tod sein Jawort, irgendwo an einem verborgenen Ort in der Seele. Doch wann sagen wir ja? Und warum?

Erst als der Henker den Reisighaufen mit der Fackel in Brand steckte, verzog sich das Gesicht des Einsiedlers vor Schrecken. Sein Lied vermischte sich plötzlich mit dem Knistern des Reisigs. Aus den unteren Zweigen stachen kleine Flammen hervor, die kaum sichtbar waren im grellen Sonnenlicht.

Doch Pagliaccio konnte sie riechen, und mit Entsetzen bemerkte er, wie plötzlich an sämtlichen Stellen in immer tieferen Orangetönen die Flammen nach oben stoben. In lautloser Hingabe stierten die Dorfbewohner auf den gefesselten Menschen und den unheimlichen Tanz des wachsenden Feuers. Wie nah es schon den Beinen war! Nichts mehr würde von diesem Wesen in den bunten Stofffetzen mit den alles erkennenden Augen und dieser klaren, dunklen Stimme übrig bleiben. Mit den Handflächen suchte er nach dem Schlag seines eigenen Herzens. Wie lebendig es sich anfühlte! Und dieser feste Körper zerfiel so schnell, wenn keine Seele mehr in ihm wohnte. Nichts mehr würde gleich sein bis auf Asche … Entsetzlich, das Sterben zu erleben! Wach zu sein, wenn der Körper verglühte, bevor die Seele ausgezogen war. Wo bei allen Geistern steckte Roberto? Im Wald? Geflohen? Würde er zurückkommen? Pagliaccio spürte eine brennende Angst. Dieser Mord hier war kein Spiel, auch nicht die Qualen des Einsiedlers, der sich mit weit aufgerissenen Augen wie ein Wurm in den Ketten wand. Hier war eine endgültige, brutale Wirklichkeit zu Gange. Eine Wirklichkeit, die ihn am Grund seiner Seele lähmte.

In diesem Moment zerriss ein furchtbarer Schrei seine Gedanken. Das Feuer begann, sich in den Körper des Einsiedlers zu fressen. Ein Zischen, der üble Geruch von brennendem Menschenfleisch. Wieso zog der Henker die Schraube nicht an? Wieder dieses fürchterliche Kreischen, nur noch keuchende Fragmente jener weisen Melodie. Töne wie vom Himmel stürzende, zerfetzte Krähen. Der Bürgermeister verfolgte das Schauspiel mit eisiger Miene.

“Bürgermeister”, rief Pagliaccio mit zitternder Stimme. “Der Henker! Er muss endlich die Schraube anziehen!”
“Das Feuer soll den Teufelsmenschen ganz und gar fressen”, gab der Bürgermeister unerbittlich zurück. “Es ist gefährlich, ihn schon jetzt zu erwürgen, seine Seele könnte zu rasch entfliehen. Das Feuer soll seinen Körper fressen und die Seele.”
“Die Seele ist doch unsterblich”, stieß Pagliaccio hervor. “Ihr werdet sie nicht erwischen, macht ein Ende, macht ein Ende!”
Der Bürgermeister schwieg.

Und Pagliaccio starrte in lähmender Machtlosigkeit auf die menschliche Fackel. Erst als der halb verkohlte Körper des Einsiedlers bewegungslos in den Ketten hin, zog der Henker die Schraube zu. Ein Quietschen, ein Krachen, als das Genick brach.
“Nun ist er ganz und gar tot”, röchelte der Bürgermeister. Sein Gesicht war ebenso fahl wie der Qualm des Feuers.

Verreck du nur bald!, fluchte Pagliaccio innerlich. Alle Götter mögen dich verrecken lassen!
Die Menge stand regungslos, als könne sie ihren Augen nicht trauen, dass der Teufelshexer gestorben war. Erst als das Feuer ganz um ihn emporloderte, als es ihn bedeckte wie ein rotes Tuch, brachen die Starrenden in krächzendes Geschrei aus.
Pagliaccio empfand eine beißende Übelkeit. “La commedia è finita”, hatte der alte Meister Petruccio immer gesagt, wenn der Vorhang fiel. Das Spiel ist aus.
Was war mit ihm selbst? Wartete jetzt nicht sein Schauspiel? Hatte er nicht darum gebuhlt mit seinen Verbeugungen, als man ihm die Goldstücke hinhielt? Hatte er sich nicht verbeugt wie ein dummer Affe, der Zucker fressen wollte? Sie schienen auf krankhafte Weise gierig nach Emotionen, wie die Vampire nach Blut. Oh nein, der Einsiedler hatte diesen Schrumpfköpfen keine Gefühle entgegengebracht. Weder lautes Flehen, noch rührselige Reden – wie ausgesprochen herzlos von ihm. “Mögen die Götter dich segnen und mich”, murmelte Pagliaccio. “Nun muss ich deine Steuer zahlen.”

Ihre hohlen Augen blickten erbarmungslos zu dem Platz jenseits der Richtstätte. Dorthin, wo der Garten der Schlange stand. Und wie eine Geisterlegion setzten sie sich auf einmal in Richtung Bühne in Bewegung.

Er hatte ihnen zu gehorchen.
Als er auf den Brettern seiner Bühne stand, wandten sich ihm die merkwürdigen Personen ganz zu. Pagliaccio spürte, wie ihn dieselbe Seelenfinsternis umfing. Ja, er kannte dieses Gefühl des Verschmelzens. Diesmal schien es ihm wie ein schwarzer, tiefer Sumpf. Und es war ihm, so fühlte er meistens vor einem Spiel, als schälte sich etwas aus ihm hervor, als kehrte sich sein Äußeres nach innen und sein Inneres nach außen. Er spürte seine tatsächliche Gestalt verschwinden, spürte, sich zu etwas werden, das nur noch zeigte. Vergessen breitete sich in ihm aus, Vergessen ob seiner selbst. Es war ein Gefühl, das ihn schweben ließ, welches ihn aus diesem schwarzen, tiefen Sumpf emporhob. Und mit einem Mal kannte er auch die Geschichte, die er diesen abscheulichen Gestalten zeigen wollte.

Ein Teil von ihm wurde zu einem Gnom. Einem biestigen, gedrungenen Zwerg, der ein scharfes Messer in der Hand hielt. Damit wollte er die Menschen hinterrücks abschlachten und sie hernach braten. Sein anderer Teil blieb der Spaßmacher. Der Spaßmacher wollte den Gnom mit einem Schmetterlingsnetz fangen, denn es war eine hohe Belohnung ausgesetzt. Das grässliche Geschöpf aber verstand es gut, sich immer wieder zu entwenden. Es hüpfte empor und sprang geifernd davon. Der Spaßmacher jagte den Gnom über Berge, in einem Boot über das Meer, und immer, wenn er ganz nahe dabei war, ihn zu erlegen, da stach der Gnom ihn mit dem spitzen Messer und entkam. Die Dörfler lachten rasselnd und rau. Sie keuchten, würgten, doch es war immerhin Gelächter. Und noch während des Spiels begriff Pagliaccio, dass der Gnom nur die tückische Krankheit sein konnte, die er gerade zu besiegen suchte. So hetzte er den Gnom, und der Gnom wurde immer schwächer, bis er ihn schließlich in dem Netz zusammenschnürte. Mit ausgebreiteten Armen kredenzte er den Dörflern das unsichtbare Paket. Sie brachen in schrilles Freudengeheul aus. Er war siegreich gewesen. War es jetzt nicht an der Zeit für seine Belohnung?

Zu seinem Erstaunen bewarfen sie ihn alsbald mit Münzen, dass er zurückweichen und sein Gesicht mit einer Maske schützen musste. Was glänzt da in der Sonne, dachte er noch ganz schwindelig von seinem Spiel. So golden wie die Tränen der Götter … Von einer plötzlichen Furcht um das Geld befallen (wer konnte diese Wahnsinnigen schon berechnen?), stürzte sich Pagliaccio zu Boden. Kniend in dem Münzregen raffte und raffte er, manchmal ganz panisch, wenn ihm eins der Goldstücke entkam. Ein Wahn hatte ihn befallen, dass nur, was in seiner Truhe lag, sicher war. Die Truhe gehörte ganz und gar ihm. Er merkte gar nicht, wie der Regen allmählich schwächer wurde. Zu sehr war er damit beschäftigt, all diese umherfliegenden und rollenden Göttertränen einzufangen. Und diese garstigen Dörfler wirkten recht vergnügt dabei, die Münzen kreuz und quer zu werfen, ihn zu hetzen und umherzutreiben. Zu einem Hund war er verkommen, es musste in der Tat lustig sein, einen menschlichen Hund zu beobachten. Aber das kümmerte ihn nicht. Er wollte das Geld.

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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Regina Maier: Mord an Roberto

Pagliaccio kicherte leise. Ein gackernder Laut, der einfach aus ihm heraus kroch, und für einen Moment lang standen ihm die Haare zu Berge. Er hatte sich noch nie kichern hören. Nur Geisteskranke kicherten und Missgeburten, die über den Marktplatz tollten … Und wenn schon! Es ist auch wahnsinnig, was du vorhast. Es ist wahnsinnig! Du gehst nicht hinaus in die Nacht, um eine Schenke zu besuchen, um mit einer Hure zu vögeln … , oh nein, ganz und gar nicht … Dir wird warmes Blut ins Gesicht spritzen, mach dich darauf gefasst, damit du nicht schreist …, und denk daran, ihm den Mund zu zuhalten, der Tod hat es nicht immer eilig, vielleicht lässt er sich sogar Zeit … Eigentlich hätte ich es vorher an einem Straßenköter ausprobieren sollen. Mit stierendem Blick kramte er tief in seiner Manuskripttruhe und zog alsbald einen Dolch hervor. Die scharfe Klinge funkelte im Kerzenlicht, sie strahlte Macht aus und Bedrohung. Pagliaccio, von plötzlicher Ehrfurcht überkommen, hielt ihn empor wie der junge König Artus das Schwert Exkalibur. Ich aber bin dein Herr, und du kannst nur töten, wenn ich es will. Jener Dolch gehörte zu den kleinen Geschenken, die er sich ab und zu selbst bereitete. Der Griff bestand aus Holz, er zeigte eine Gestalt mit grimmigen, dämonischen Zügen und einem weisen schweigsamen Mund. Beim Kauf vor drei Jahren hatte ihn dieses Gesicht verzaubert. Er glaubte, dieser Mund würde sein Schweigen bewahren, selbst wenn die Figur zum Leben erwachte. Angeblich stammte das Stück aus Afrika. Als Geistesmensch wusste Pagliaccio nichts Praktisches mit dem Dolch zu beginnen und ließ ihn in der Truhe verschwinden. Weder Roberto noch die übrigen Drei konnten etwas von dessen Existenz ahnen! Und ebenso wenig konnten sie von seinem alten Kittel wissen, den er als Kleinod aufbewahrte. Er trug diesen Kittel auf der Fahrt nach Venedig, nachdem er seine Mutter erlöst hatte. Jetzt legte er diesen Kittel bereit.

Pagliaccio dachte nicht an das Kommende. Er wusste nur, dass es zu vollbringen war. In wenigen Stunden, wenn die Nacht endlich wie Pech über dem Platz der Spielleute lag. Er versuchte, sein ganzes Bewusstsein auf die Tat zu richten, auf jenen Moment, wenn er zustieß. Vergiss die Bilder von spritzendem Blut, von Robertos Händen, die sich wie irrsinnig um deinen Hals krallen … Es sind dumme Hirngespinste, die dich allerhöchstens verderben werden. Du darfst nicht zittern, keinen Fehler machen! Dein Blick, deine Gedanken dürfen nur noch das Ziel kennen. Du musst zur Schlange werden!

*

Es war ganz still bis auf den Ruf eines Nachtvogels. Geflatter, Fledermausflügel vor der hellen Mondsichel. Irgendwo, wahrscheinlich dort draußen im Moor, zirpten Grillen. Die Zelte der Spielleute standen dunkel und stumm, und Pagliaccios Schatten wanderte in dem der Dunkelheit zu Robertos Behausung.
Pagliaccio lauschte, kratzte leise an der Zeltwand. Keine Bewegung, kein Laut. Er kratzte nochmals, etwas deutlicher. Als sich wieder nichts regte, schob er vorsichtig den Zeltspalt beiseite und verhielt geduckt im Eingang. Es war viel zu finster da drin! Doch die Sterne gaben der Nacht genug Licht, und die Zeltwände waren nur aus dünnem Stoff. So wartete er, wagte dabei kaum, zu atmen, bis er sehen konnte. Er versuchte, die Energie im Zelt zu erfassen. War sie diffus oder war sie kompakt? War Roberto überhaupt da? Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie in einem leichten Anflug von Panik. Um den Todgeweihten waberte ein bleiches Zwielicht.
Roberto lag auf dem Rücken. Irrsinnigerweise suchte ihn jetzt ein schlechtes Gewissen heim. Alles schien so einfach zu sein. Wo war der Haken? Stellte sich Roberto nur schlafend? Hatte er das Geräusch an der Zeltwand vernommen? Erwartete er ihn gar? Pagliaccio hielt den Dolch fest umklammert in dem alten Löcherkittel verborgen, spürte kalten Schweiß im Gesicht. Er zwang sich einen kleinen Schritt näher heran, beugte sich herab und fixierte die Züge des einstigen Lehrlings. Der Anblick versetzte ihm einen tiefen Stich. Es war das Gesicht eines Kindes. Schuldlos, wehrlos und engelhaft. Weil dein niederträchtiger Geist gerade auf Traumfahrt ist. Wo schwebt er? Sieht er? Pagliaccio fand, dass Roberto in den letzten Atemzügen seines Lebens schöner wirkte denn je. Du bist kein Kind!, kämpfte er gegen die klagende Stimme in seinem Kopf. Du bist nie ein Kind gewesen! Und seine Augen suchten nach der Stelle, wo das Herz des Jungen schlug.
Mit einem stummen, inneren Schrei griff er nach dem Dolch und stieß ihn in Robertos Brust. Es ist …, dachte er voll triumphalen Grauens, wie wenn man einen Apfel aufspießt. Ich habe … das Kernhaus getroffen. Roberto währenddessen krümmte sich zusammen, seine Hände fuhren zu dem Messer, doch noch ehe er schreien konnte, presste Pagliaccio ihm die Hand auf den Mund.
Roberto starrte ihn an, und er stierte in Robertos Augen. Sie schienen ihm jetzt gleißend hell. Er drückte ihm die Hand stärker auf den Mund, lehnte sich mit ganzer Kraft gegen seinen Körper, ohne den Blick von Robertos Gesicht wenden zu können. Und Roberto starrte … Ein entsetzliches, stummes Schreien. Ja, in diesen Augen war noch Leben. Viel zu viel Leben! “Stirb, Roberto”, flüsterte er heiser, “oh stirb endlich!”

Doch der hartnäckige Knabe, selbst im Erlöschen widerspenstig, wollte einfach nicht. Schrecken, Anklage und ein tiefer Fluch lagen in seinen Augen. Erst nach widerwärtig zähen Momenten ließ die Spannung nach, und er sackte zurück auf das Deckenlager. Röchelnd lag er unter ihm, sein Körper erzitterte ein letztes Mal, dann war es still.

Als Pagliaccio wieder einen Blick in sein Gesicht wagte, waren auch seine Augen finster.
Blut sickerte auf den Erdboden, und er spürte warmes Blut seinen Kittel durchdringen. Versunken in wirrer Gleichgültigkeit, betäubt vom Schrecken über die eigene Tat, blieb Pagliaccio an der Seite des Toten. Er empfand nichts, bereute nicht, er betrachtete nur noch. Robertos vom Entsetzen verzerrte Züge ruhten in dem fahlen Zwielicht. Wie wird dies alles aussehen, dachte er, wenn morgen die Sonne scheint. Nichts wird mehr sein, wie es gestern noch war.

Plötzlich durchdrang ein merkwürdiges Geräusch seine Gedanken. Dabei konnte es doch nur der Wind sein … Wind, der in den Bäumen … Pagliaccio erstarrte zunehmend. Dieses Säuseln klang so menschlich, fast wie ein klagendes Flüstern. Vielleicht war es wirklich nur der Wind, dem sich ein … dem sich dieses Flüstern bemischte: “Was hast du gemacht?” Er war nicht mehr allein in dieser gottverlassenen Nacht! Pagliaccio spürte, dass jenseits der Zeltwand Wehmut herrschte, Trauer, Wut. Und diese schwärende Frage: Was hast du gemacht? Die Stimme verebbte, wurde zu einem erstickten Piepsen. Draußen der schwindende Schatten von einem wehenden Gewand. Existierte es wirklich? Die Nacht, ihre unberechenbaren Schatten, machten ihm Angst. In ihm selbst war es so dunkel. Wo war die Silhouette jetzt? Ein Trugbild seines von Furcht durchtränkten Geistes? Es durfte keine Silhouette geben! Pagliaccio lauerte geraume Zeit in einem Zustand der Lähmung. Er hörte nichts mehr, sah nichts mehr, alles blieb stumm und reglos. Und alles war stumm und reglos. Ich werde dich jetzt alleine lassen, Roberto …, dachte er zitternd, … morgen wird viel Trubel um dich her sein. Wie du es immer wolltest. Mit einer unsagbaren Angst vor der Finsternis schlich er in seine Behausung zurück.

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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Regina Maier: Der Inquisitor, Leonardo und Emilia

Zwei Soldaten führten Emilia in die Mitte des Gerichtssaals. Ihre feine, in einfaches Leinen gekleidete Gestalt wandelte zwischen ihnen wie ein Luftgeist. Im Gerichtssaal regte sich nichts mehr. Selbst das Getrappel der Ratten hinter der Wandvertäfelung verstummte. Nur die Staubkörner tanzten auf den Sonnenstrahlen, und Emilia stand inmitten dieses Nebels aus Staub und Sonnenlicht.

“Schließt die Fensterläden!”, ordnete Leonardo an. “Es ist zu viel Licht hier drin.” Er wartete, bis ein Schatten über Emilias Gestalt fiel und betrachtete sie schweigend. Ein Richter, schließlich, hatte die Angeklagte zu durchdringen. Gleichermaßen aber empfand er das unheimliche Gefühl, als ob der Inquisitor ihn durchdrang. Machst du auch alles richtig? So, wie ich es will? Wie leicht war es ihm gefallen bei all jenen Verbrechern, auf deren groben Mienen falsche Reue lag. In Gedanken hörte er den Klang seiner eigenen Stimme, während er das Todesurteil sprach, spürte diese merkwürdige Faszination, wenn die Botschaft mit jedem Wort endgültiger wurde. Dann entdeckte er das Entsetzen in ihren Gesichtern, die abgründige Angst vor dem Tode, und jedes Mal stahl sich eine Ahnung in sein Bewusstsein, was Leiden bedeutete. Er würgte es hinunter. Doch jetzt tauchte diese Ahnung wieder als ein bitteres, schleichendes Ziehen auf. Emilia … Es war nicht gut, dass sie sich hier in diesem Saal befand, sie gehörte nicht hierher.

Reglos stand sie vor ihm, den Blick unter dichten Wimpern ins Leere gerichtet, das Gesicht von schwarzen Locken umhüllt. Ein blasses Gesicht, auf dem ihr Mund, der ihm vor wenigen Tagen noch so sinnlich schien, wie eine harte Knospe lag. Abweisend und vorwurfsvoll. Sie hatte ihre Kindlichkeit verloren.

Ein zartes, lüsternes Rot wanderte hoch in Milenos fahle Wangen. “Was für eine wunderschöne Teufelsbraut”, raunte der Inquisitor. “Bei Gott, was für ein erhabenes Geschöpf. Nicht wahr, il Moro, sie ist wunderschön. Wollt Ihr sie nehmen für eine Nacht? Lasst es lieber bleiben. Sie wird Euch fressen mit Haut und Haar, die Teufelin.” Grimmig, verlangend, wie ein durstiges Raubtier, maß er jede Faser ihres Körpers.

Und Leonardo war es, als spürte er ihre Angst, ihren Ekel.
“Führt die Unholdin wieder hinaus!”, verlangte Mileno plötzlich. “Ich spüre ihn schon, den Teufel in diesem Raum.”

“Mileno”, flüsterte Leonardo. “Habt Ihr je ein Weib gehabt? Mir scheint, Ihr fürchtet Euch davor.”

Mileno warf ihm einen Blick zu, in dem besinnungslose Gier lag und tödlicher Ernst. “Das schöne Weib ist schlecht. Die hässlichen hingegen sollen leben und Männer gebären. Ich habe meine Frau getötet, denn sie war schlecht.”
“Was hat sie getan?”
“Sich an einen Lebemann vergeben – wie Ihr einer seid.” Ein irrsinniger Glanz lag in den Augen des Inquisitors. “Ich habe ihm das Herz aus der Brust reißen lassen nach langer, strenger Folter. Ich ließ es ihr bringen. Doch wisst Ihr, il Moro, Weiber sind undankbar. Sie wollte es einfach nicht annehmen, dabei lag es so schön verpackt in einem weißen Seidentuch. Das liebevolle Geschenk eines gehörnten Gatten. Ihr glaubt nicht, wie sie geschrieen hat.”

Leonardo hielt schaudernd den Atem an.
“Am nächsten Tag war ihre Hinrichtung”, erzählte der Inquisitor weiter. “Ich habe sie noch einmal betrachtet, wie sie auf dem Reisighaufen kniete, gebunden an den Pfahl. Ich wartete auf einen flehenden Blick, doch nichts dergleichen geschah. Sie war tatsächlich des Teufels. Jedes reine Herz hätte noch einmal um Gnade gefleht.”
“Hättet Ihr denn Gnade gewährt?”
“Niemals. Ich lauschte ihren besinnungslosen Schreien und sah ihren Körper zu Asche werden. Es tat mir wohl, ihre Schönheit sterben zu sehen. Denn ihre Schönheit war es, die mir die Hölle bereitete.”
“Habt Ihr sie nicht deswegen zur Frau genommen?”
“Ich verzehrte mich nach ihr, il Moro, das ist wahr. Es war ein reißendes, sinnloses Feuer und die Angst, sie zu verlieren, stärker als alle Leidenschaft.”
“Bis Ihr sie wirklich verloren habt.”
“Ich selbst schmorte im Feuer. Also habe ich sie den Flammen übergeben … Erst dann wuchs meine Seele wieder zusammen. Das ist Gerechtigkeit, findet Ihr nicht?”
“Ihr habt Euch selbst zu einem teuflischen Märtyrer gemacht”, sagte Leonardo. “Sonst nichts.”
“Ihr denkt zu heroisch, Richter il Moro”, antwortete der Inquisitor mit verglasten Augen. “Aber ich bin kein schöner Held wie Ihr.”

“Was hättet Ihr mir damals geraten, Cartagno?”, fragte Mileno heiser.
Cartagno lächelte. “Ein Held hätte sich in Frieden von dem Schmerz befreit und die Sache ein reines Ende gefunden.”
“Vielleicht”, entgegnete Mileno mit düsterem Hohn, “ist es unsere Aufgabe, ein Held zu werden. Loslassen, meint Ihr, vergeben, ein Christus werden – dahin geschwätztes Zeug. Ihr seid ein Philosoph, Cartagno. Und ich verachte Philosophen.”
“Ihr fragtet nach meinem Rat.”
“Was mir geschah, war ein Zeichen Gottes”, wieder glimmte die Verblendung in seinen Augen. “Damit zeigte er mir meine wahre Mission – nämlich den Kampf gegen Ketzerei, Häresie und Hexerei.” Er wandte sich Leonardo zu und fuhr mit kalter Stimme fort. “Ich benötige ein wenig Ruhe nach diesem Schrecken. Es ist immer wieder entsetzlich, dem Teufel ins Gesicht zu sehen. In wenigen Stunden werdet Ihr dieses Weib verhören. Ich werde zuhören und entscheiden.”
“Was werdet Ihr entscheiden?”, fragte Leonardo.
“Ob Ihr diesen Prozess führt oder ich.”

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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