Jonathan Loewe: Herr Rurka. Der Elefantenmann

KAPITEL 51: Geliebte Konstanze

Am Samstag lag ich abends vor dem Fernseher und zappte ohne bestimmtes Ziel durch die einzelnen Kanäle. Es war kurz vor acht Uhr, und ich wartete auf die Tagesschau.
Die Lottozahlenziehung fand ich von Natur aus nicht so interessant, und deshalb schaute ich bei einigen anderen Sendern vorbei, in der Hoffnung, die zehn Minuten mit etwas Sehenswertem überbrücken zu können. Fehlanzeige. Es liefen überall nur langweilige oder volksverblödende Sendungen.
Wir hatten an dem Samstag einen Großteil unserer mit Gemüse bewirtschafteten Fläche umgegraben, mit Hand und Spaten, um daraus eine Rasenfläche zu machen. Die Hälfte, die wir insgesamt umpflügen wollten, hatten wir bereits geschafft und glatt geharkt. Gegen achtzehn Uhr waren sämtliche Kräfte aufgebraucht, uns tat der Rücken weh, Arme und Schultern. Nach einem heißen Bad aßen wir Pizza und tranken ein verdientes Bier dazu.
Meine Schwester fuhr mit ihrem Freund zu einer Geburtstagsfeier, meine Mutti legte sich ins Bett und wollte ein Buch zu Ende lesen. Ich nahm mir ein zweites Bier und hockte mich vor den Fernseher. Die Beine kamen aufs Sofa, in den Rücken steckte ich mir ein großes Kissen, trotzdem schaffte ich es manchmal kaum, die Fernbedienung zu heben, so weh taten mir alle Knochen.
Nachdem ich einige Sender erfolglos durchgezappt hatte (nicht alle), entschloss ich mich, über alle Schmerzen im Rücken hinweg zu sehen und mir noch ein Bier zu holen. Ich lief die Treppe hinunter in den Flur, ging in die Diele und von dort in den Keller, nahm mein Bier aus der Kiste und stiefelte den ganzen Weg wieder nach oben. Meine überlegung war: Ich hole mir jetzt ein Bier, es läuft sowieso nichts im Fernsehen, und dann brauche ich nachher nicht los – wenn vielleicht was Wichtiges oder Interessantes kommt; außerdem tun mir später die Knochen und Muskeln vielleicht noch mehr weh.
Als ich wieder oben auf dem Sofa lag, schnaufend und erschöpft, waren es nur noch zwei Minuten bis zwanzig Uhr. Hätte ich gewusst, dass ich das dritte Bier, das ich eben aus dem Keller geholt hatte, nie öffnen würde, hätte ich mir den Weg gespart. Wer es schließlich getrunken hat, und wann, weiß ich nicht, aber irgendwann war es weg.
Bei der dritten Meldung der Tagesschau, die Sendung lief noch keine fünf Minuten, traute ich meinen Ohren nicht. Es hörte sich so kurios und absurd an, dass einem ganz automatisch die Kinnlade nach unten klappte; man beugte sich von ganz allein nach vorn, um dem Geschehen näher zu sein, es besser hören und sehen zu können.
Dass ich ein großer John Irving-Fan bin, brauche ich nicht mehr zu erzählen, und dass ich seine Geschichten liebe und verschlinge, ist auch kein Geheimnis: Genau dieser John Irving tauchte plötzlich in der Tagesschau auf. Ich hatte ihn noch nie vorher gesehen und konnte mir bisher nicht so richtig vorstellen, wie er wohl aussah. Und jetzt zeigten sie nicht einfach nur ein Porträt von ihm, links hinter dem Nachrichtensprecher, sondern sogar bewegte Bilder, und dazu gab es eine kuriose Geschichte. Nebenbei schoss mir durch den Kopf: So was kann auch nur einem Schriftsteller passieren! Plötzlich wusste ich, und sicher viele andere seiner Leser auch, wo er immer die vielen verrückten Geschichten herbekam – sie fielen vom Himmel, direkt vor seine Füße. In diesem Fall allerdings landete die Geschichte nicht vor seinen Füßen, sondern auf dem Tisch vor ihm, wo er gerade ein Buch signierte. Die Geschichte krachte in Form einer jungen Frau, nicht vom Himmel, vielmehr vom Dach eines Hotels auf den Tisch vor ihm.
John Irving war zu Gast in Hamburg, um sein Buch “Zirkuskind”, das Anfang neunzehnhundertsiebenundneunzig auf den deutschen Markt kommen sollte, vorzustellen. Er war vorher schon in München, Stuttgart, Dortmund und Berlin gewesen, doch in Hamburg sollte seine Buchvorstellung ein vorläufiges Ende finden – in Form eines gebrochenen Armes, einer ausgekugelten Schulter und eines stark geprellten Knies.
Eine junge Frau – “Anfang zwanzig“, erzählte der Reporter – stürzte sich vom Dach des Hotels. Vor dem Gebäude gab John Irving nach einer Vorlesung aus seinem Werk in einem abgesperrten Bereich Autogramme und signierte Bücher. Die Lesung fand im Hotel, im Konferenzraum, statt, und es waren nur Journalisten und geladene Gäste dabei. Die Irving-Fans ließen sich davon nicht abhalten, trotzdem zum Hotel zu pilgern, um vielleicht von ihrem Idol einen Blick oder gar ein Autogramm zu erhaschen. Viele trugen ein Buch unterm Arm, ein älteres Werk von John Irving, in der Hoffnung, es signiert zu bekommen. Und nachdem die Veranstalter den Ansturm der Fans vor dem Hotel bemerkten, konnten sie John Irving dazu überreden, vor dem Hotel noch einige Autogramme zu verteilen als extra wirksamen Werbegag für sein neuestes Buch. Sehr schnell wurde ein Teil der Hotelzufahrt abgesperrt, ein Tisch und ein Stuhl sowie ein paar Bodyguards hingestellt, und die Chose konnte losgehen.
Auf dem Bildschirm, hinter dem Reporter vor Ort, drängte sich eine Vielzahl von Menschen, die scheinbar darauf warteten, dass ihnen das Schauspiel noch einmal geboten wurde. Aber, so wie der Reporter berichtete, musste wohl auch schon hoher Betrieb geherrscht haben, als der Arm und die Schulter von John Irving noch völlig intakt waren.
John Irving schrieb fleißig seinen Namen in Bücher, auf Zettel oder Rechnungen, nahm Lobeshymnen entgegen und schaute in strahlende Gesichter, denen er mit einem Lächeln begegnete. Dabei entging ihm, niemand merkte etwas – nicht einmal die Leute von Funk und Presse –, wie ein kleines Unheil, das auch hätte anders ausgehen können, auf ihn zuraste.
Als man die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren von Irving und dem zusammengebrochenen Tisch entfernte, steckte der Füllfederhalter, mit dem der Schriftsteller signiert hatte, in der rechten Wange der toten Frau, durchgebohrt bis zum Anschlag.
Der Arm vom John Irving, der den Füllfederhalter umklammert hatte, war nicht nur gebrochen, sondern auch völlig blutbeschmiert, genau wie ein Teil seines Hemdes und der Hose. In seinem schmerzverzerrten Gesicht prangten einige mehr oder minder große Blutspritzer.
Ich hätte am liebsten die Nachrichten zurückgespult, weil ich das Spektakel noch einmal sehen wollte, da ich es einfach nicht glauben konnte (nicht aus Sensationsgier).
Unter den Autogrammjägern befanden sich zwei Ärzte, die bei Irving und der Frau, die vom Himmel gefallen war, sowie bei dem fünfzehnjährigen Jungen, dessen Buch gerade signiert wurde und der deswegen unmittelbar vor John Irving stand, gleich Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführten.
Allerdings kam für die junge Frau jede Hilfe zu spät, sie war schon tot, als sie den Tisch berührte. John Irving und der Jugendliche, er wurde von einem Fuß der Frau getroffen, waren nicht so lebensgefährlich verletzt, dass man von einem Segen und Wunder sprach, weil ausgerechnet zwei Ärzte anwesend waren.
Die junge Frau war Gast des Hotels gewesen. Sie hatte dieses Zimmer am Tag zuvor gebucht, war am Morgen der Buchlesung eingetroffen und in ihrem Zimmer verschwunden. Eine kleine Tasche und einen Rucksack hatte sie als Gepäck dabei.
Nachdem man herausfand, wer die tote Frau war, durchsuchte man ihr Hotelzimmer. Anfangs wurde ein Verbrechen nicht ausgeschlossen, sogar von einem Attentat auf John Irving war kurzzeitig die Rede, aber all diese Vermutungen zerschlugen sich rasch, denn man fand einen ausführlichen Abschiedsbrief, dessen Inhalt allerdings nicht veröffentlicht wurde. Außerdem entdeckte man absolut keine Hinweise oder Spuren, die auf ein Verbrechen hinwiesen.
Ich muss zugeben, ich war etwas amüsiert darüber. Die Treffsicherheit des Schicksals erschien mir unbegreiflich, dass ausgerechnet John Irving so etwas widerfahren musste, grenzte in meinen Augen an Hexerei, Ironie und irgendwie auch Hohn – manchen Menschen fallen die Dinge eben einfach in den Schoß. Und darüber musste ich schmunzeln.
Aber im Großen und Ganzen ging es mir trotzdem bei der Meldung nicht besonders gut. Und das lag nicht etwa am wirkenden Alkohol, an den schmerzenden Muskeln oder meiner Abgespanntheit. Nein. Vielmehr fühlte ich mich im Bauch komisch, unwohl und bedrückt. Irgendetwas … irgendein Gefühl hatte sich in mir festgesetzt, das ich nicht genau orten und deuten konnte. Ich verstand es nicht.
Dann klingelte das Telefon.
Im Fernsehen berichteten sie von dem Stuttgarter Vier-zu-zwei-Sieg und dass sie weiter mit einem Punkt Vorsprung die Tabellenführung behaupteten. Bochum – Dortmund eins zu null. Leverkusen – Rostock vier zu eins.
Beim zweiten Klingeln stellte ich den Ton aus.
Mit steifem Rücken und angeschwollenen Knien humpelte ich zum Telefon. Als ich abnahm, heulte Schwester Ina auf der anderen Seite. Sie schluchzte, schniefte und weinte, als ob ihr Opa oder Freund gestorben wäre. Ich befürchtete das Schlimmste, und nachdem ich eine Weile beruhigend auf sie eingeredet und sie nicht darauf reagiert hatte, schloss ich meinen Mund und sagte gar nichts mehr. Sie weinte immer weiter.
Nach einer Ewigkeit fragte sie mit zitternder und verweinter Stimme: “Bist du noch da?”
Ich brummte nur zustimmend, und Schwester Ina weinte weiter – sie konnte oder wollte nichts sagen.
Nach der zweiten Ewigkeit, es war bestimmt eine Viertelstunde vergangen, flüsterte sie in mein Ohr, Constanze wäre tot. Sie bemühte sich hörbar um Fassung, es rauschte und knisterte in der Leitung. Und genau wie eben bei der Nachricht von John Irving im Fernsehen konnte ich auch hier nicht glauben, was ich hörte. Sie musste es mir noch ein zweites und drittes Mal erzählen, bis ich den Sinn ihrer Worte kapierte.
Wir unterhielten uns über vier Stunden lang am Telefon (die Telekom hat sich nie dafür bedankt!), na ja, meistens heulten wir. Es dauerte so lange, weil ich nicht allein sein und mit jemandem reden wollte, und bei ihr war es ganz ähnlich. Oft sprachen wir gar nichts, sondern pressten einfach nur den Hörer ans Ohr und lauschten dem Atmen oder Schluchzen des anderen.
Zwischendurch fragte ich sie, wie Constanze gestorben wäre.
Schwester Ina schluchzte einmal auf und fragte: “Hast du heute schon Nachrichten gehört oder geguckt?” Dann berichtete sie mir, was ich eben in den Achtuhrnachrichten gesehen hatte …

(Auszug aus dem Roman von Jonathan Loewe, Halle an der Saale)

 


 

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