Am gleichen Tag fand noch eine Unterhaltung mit August Redmann und August Rösler vom Betriebsrat statt.
August war ein Kollege, der in der Küche arbeitete. Ein sehr großer und schlanker Mann, der immer ein bisschen so aussah, als bekäme er trotz seiner Küchenarbeit nicht genügend zu essen. Sein hellblondes Haar und die helle, beinahe fahle Haut unterstrichen diesen Eindruck. Im Kollegium erfreute er sich auch nicht allzu starker Beliebtheit, seitdem er auf die Seite der Geschäftsführung gewechselt war.
Dieses Gespräch verlief für Jennifer unangenehm. Sie wurde aufgefordert, eine neue ärztliche Bescheinigung zu bringen, aber sie sollte darauf achten, was darin stünde. Bekäme sie das Prädikat “stark beschränkt”, so müsste August Redmann ihr kündigen, weil ihre Tätigkeiten mit Pflege verbunden wären. Die weitere Empfehlung lautete mal wieder: “Sie sollten in Rente gehen, und Ihre Krankheit ist Ihr persönliches Pech!”
Erst nach allen Vorwürfen fing Jennifer an, aufgebracht zu erzählen, dass in der Werkstatt seit Jahren gegen sie gearbeitet würde. “Andrea versucht, seitdem ich keine Toilettengänge mehr machen kann, mir das Leben schwer zu machen. Sie faselt in regelmäßigen Abständen von einer eingebildeten Krankheit, vom Faulsein, und ich soll den Arbeitsplatz räumen …”
August Redmann unterbrach Jennifer: “Ein Mensch in Ihrer Situation neigt dazu, alles schwerwiegender zu sehen, als es tatsächlich ist.”
Jennifer bekam das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, und versuchte weiter, die beiden Herren davon zu überzeugen: Es gäbe jemanden, der ihre Aussage bestätigen würde.
August Redmann riet Jennifer davon ab, mögliche Zeugen vorzuführen.
Nicht nur die Werkstattleitung und der Sozialdienst äußerten sich ohne Hemmungen und offen über Jennifers künftige Rente, auch Andrea legte ihre Zurückhaltung ab und verkündete immer öfter und lauter: “Wenn man krank ist, egal, ob man einen GdB von 50 oder 60 Prozent hat, sollte man in Rente gehen!”
Das reichte Jennifer, ihre Nerven machten nicht mehr mit. Es genügte nicht, dass ihre körperliche Verfassung in Mitleidenschaft gezogen wurde, man versuchte auch noch, ihre Psyche niederzustrecken.
Völlig aufgelöst, bat Jennifer darum, nach Hause gehen zu dürfen, da sie an diesem Tag nicht mehr in der Lage war, zu arbeiten.
Sie konnte es einfach nicht fassen: Ist das ein böser Traum?, dachte Jennifer, wie können Menschen, die mit Behinderten zusammen arbeiten und sozial positiv eingestellt sein sollten, sich so benehmen?
Am Tag darauf ließ sich Jennifer krankschreiben für weitere 14 Tage.
Auf das Echo von Seiten der Werkstatt musste sie nicht lange warten.
Am Tage darauf bekam sie eine Abmahnung nach Hause geschickt. Ihre Fassungslosigkeit war grenzenlos, für ihre Krankheit wurde Jennifer bestraft.
Unternehmen konnte sie nicht viel, aus dem Grund, da das Vertrauen in den Betriebsrat aus ihrer Einrichtung sehr beschränkt ausfiel, und so wandte sie sich an zwei Frauen, die auch zum Betriebsrat gehörten, Kerstin Tiede und Regine Hoffmann aus den Gieselwerder Werkstätten. Beide Damen arbeiteten in einer Schwesterwerkstatt, und Jennifer erhoffte sich ein wenig Unterstützung.
Nach telefonischer Absprache trafen sie sich, Jennifer berichtete im Detail über ihre Lage. Beide staunten ziemlich und sagten ihr Hilfe zu. Gemeinsam setzten sie ein Schreiben auf, in dem Jennifer um eine Anhörung in Gegenwart vom gesamten Betriebsrat und August Redmann bat.
In dieser Überzeugung fragte sie ihren Mann: “Kannst du bitte diesen Brief persönlich bei meiner Firma vorbeibringen. So umgehen wir den Postweg, Herr Redmann bekommt schneller meinen Brief auf den Tisch und ich rascher eine Antwort.”
“Das ist kein Problem, ich fahre sofort los.”
Da die Einrichtung kurz vor dem Urlaub stand, war es auch August Redmann wichtig, dieses Treffen schleunigst zu organisieren.
In kürzester Zeit erhielt Jennifer einen Termin und machte sich sehr aufgeregt zum genannten Zeitpunkt auf in die Werkstatt.
Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass zu dieser Betriebsratversammlung nur August Redmann, Kerstin Tiede und Regine Hoffmann erschienen waren.
Jennifer durfte ihren Chef in voller Fahrt erleben.
In seinem Büro herrschte eine schlechte Atmosphäre.
Beide Damen zeigten große Unsicherheit, und man konnte förmlich ihre Gedanken lesen: Was wird jetzt passieren?
Als sie alle Platz nahmen, merkte Jennifer, dass sie ironisch von August Redmann betrachtet wurde, und ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht.
Als Erstes wurde sie darüber mit Arroganz und Ironie in seiner Stimme informiert: “Dieses ist keine offizielle Betriebsratversammlung, Sie können sich, Frau Gerwin, nun alle Sorgen von der Seele sprechen.”
Jennifer staunte: “Ich bat doch um eine offizielle Anhörung.”
“Nein, das ist nicht der Fall.”
Auf Jennifers Frage, wer das Protokoll führen sollte, gab es bloß ein kurzes Schulterzucken.
Die beiden Damen wollten das anscheinend nicht tun, und der Werkstattleiter erklärte: “Wenn Sie darauf bestehen, werde ich das machen.” Jeden einzelnen Satz von Jennifer unterbrach er daraufhin. Er behauptete: “Ich muss alles, was Sie sagen, korrigieren, damit dies der Wahrheit entspricht.”
Kerstin Tiede und Regine Hoffmann zeigten immer mehr Unsicherheit und Unwohlsein. Sie guckten sich gegenseitig an und glaubten nicht, was sie da hörten und sahen.
“Sie, Frau Gerwin, haben Ihre Kollegin Frau Gorges missbraucht, indem Sie Ihre Toilettengänge ihr übertragen haben und behaupteten, sie wäre dafür eingestellt worden.”
“Das stimmt alles, wir beide haben uns darüber unterhalten. Sie sagten doch selber zu mir, wenn ich das nicht kann, dann soll ich mich an Frau Gorges wenden, schließlich haben wir sie für pflegerische Tätigkeiten engagiert.”
“Passen Sie auf, was Sie da sagen, das ist eine Unterstellung. Wenn ich wollte, könnte ich Sie für diese Worte belangen. Auch in Bezug auf den Kollegen Lübbert, der nicht mehr bei uns arbeitet. Das ist ebenfalls eine Unterstellung, er hätte sie gemobbt.”
“Das ist keine Unterstellung, sondern das sind die Worte, die Herr Lübbert in einem Gespräch mir gegenüber benutzte, und danach bekam ich Probleme mit Ihnen, Herr Redmann.”
Die Luft in diesem Raum wurde immer dicker, die Gemüter immer erhitzter, und Jennifer bekam langsam Schwierigkeiten, ihre Tränen in Schach zu halten.
Aber das Allerschlimmste waren zwei Sätze, die August Redmann aussprach: “Sie drücken sich vor der Arbeit, und Sie erledigen nur die angenehmen, nicht aber die unangenehmen Aufgaben. Sie verpieseln sich dauernd aus der Gruppe.”
In diesem Moment wollte Jennifer sich das alles nicht länger gefallen lassen: “Dann müssen wir das durch ein Gericht klären lassen.”
August Redmann meinte nur lapidar: “Dann machen Sie das doch!”
Die beiden Damen saßen völlig versteinert da, und während der Dauer des ganzen Gesprächs sagten sie keinen Mucks. Sie waren einfach sprachlos.
(Auszug aus dem Mobbing-Tagebuch von Jaqueline Stone, Lübeck)
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